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Autonome Kinder und intuitive Verbindungen – im Gespräch mit Jesper Juul

Ich hatte vor kurzem die Möglichkeit, dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, eine persönliche Frage zu stellen. Aufhänger war sein neues Buch “Liebende bleiben”, welches ich euch bereits letzten Monat vorgestellt habe. (Hier findet ihr den Artikel)
Ich wahr ehrlich gesagt ein bisschen aufgeregt (wann hat man schonmal die Möglichkeit, einem der bekanntesten Familientherapeuten eine Frage zu stellen) und mir flatterten jede Menge Fragen durch den Kopf. Da es zwei Themen gibt, die mich in den Büchern von Herr Juul besonders ansprechen, und die gleichzeitig sehr präsent in unserem Familienleben sind, habe ich genau diese Themen in meine Frage integriert.
Aber lest selbst.

Sehr geehrter Herr Juul,

das Kapitel, das mich in ihrem neuen Buch direkt gefesselt hat, war das der intuitiven Verbindung.
Während des Lesens bekam ich immer mehr das Gefühl, dass solch eine Bindung zwischen mir und unserer zweijährigen Tochter Emma besteht.
Unsere Beziehung war nicht immer einfach und doch immer sehr eng.
Nach einer schweren Schwangerschaft und traumatischen Geburt, litt ich lange unter einer Wochenbettdepression. Während dieser Zeit hatte ich oft das Gefühl, Emma keine gute Mutter zu sein. Dies wurde vor allem dadurch verstärkt, dass Emma ein Schreikind war und ich sehr darunter litt, ihr scheinbar nicht das geben zu können, was sie brauchte.
Auf der Suche nach Antworten bin ich über zwei Begriffe gestoßen, die nicht nur Emma sondern auch mich selbst sehr gut beschreiben: der von Ihnen geprägte Begriff „autonome Kinder“ und die Hochsensibilität.
Emma hat einen unglaublich starken Willen, sie möchte alles alleine entscheiden und tun, auf Grenzen reagiert sie mehrmals täglich mit langen Wutanfällen und sie mag es überhaupt nicht, wenn sie sich nicht frei bewegen kann.
Ich selber komme durch meine Hochsensibilität sehr schnell an meine Grenzen, sowohl durch Lautstärke, Unordnung oder auch dann, wenn ich von meinem Rhythmus abweichen muss. Durch diese Gegebenheiten stoßen Emmas und meine, teils entgegengesetzten, Bedürfnisse jeden Tag aufeinander und enden oftmals in Tränen, Wut und Verzweiflung.
Emma und ich haben eine sehr innige Beziehung und trotzdem (oder gerade deswegen?) kommt es jeden Tag zu diesen Situationen, die mir im Herzen wehtun. Ich denke, wir stecken mitten in einem großen Machtkampf, der keinem von uns gut tut.

Meine Frage an Sie ist:

Wie kann ich Emmas Bedürfnis nach Autonomie auf eine liebevolle Art und Weise begegnen, ohne dass sie unseren Familienalltag bestimmt und auch meine Bedürfnisse nach Ruhe und Routine erfüllt werden?

Jesper Juul hat darauf geantwortet:

Ich schreibe gerade an einem Buch zum Thema „Autonome Kinder“. Voraussichtlich wird es im Herbst bei Kösel unter dem Titel erscheinen: “Das kann ich selbst. Wie Eltern selbstbestimmte Kinder gut ins Leben begleiten.”
Aus Ihrer Beschreibung geht nicht klar hervor, ob der Begriff autonom tatsächlich auf Emma zutrifft. Autonome Kinder bestehen mit Nachdruck darauf, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, zielen aber nicht darauf ab, der Boss im gesamten Familiengefüge zu sein.
 Sie können sich mit einem einfachen Test Klarheit verschaffen, indem Sie Ihrer Tochter in einer ruhigen Minute erklären:
„Du weißt, wie oft wir beide gereizt und wütend werden, wenn wir versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden. Du willst deine Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen und ich meine, und das hat zur Folge, dass wir beide unglücklich sind. Ich habe ein Buch über das Thema gelesen, und seither überlege ich, ob du vielleicht ein autonomes Kind bist und ich aufhören sollte, dir vorzuschreiben, was du zu tun und zu lassen hast. Ich für meinen Teil brauche jedoch ein gewisses Maß an Ordnung und Routine, um mich wohlzufühlen. Deshalb habe ich beschlossen, dass ich dir in Zukunft aufmerksamer zuhören werde, um in Erfahrung zu bringen, wie du bestimmte Dinge gerne hättest.
Ob Ihre Tochter ein “autonomes” oder “selbstbestimmtes” Kind ist, erkennen Sie auf Anhieb daran, dass sich ihr Gesicht entspannt und ihre Augen freudig aufleuchten.
Andernfalls ist es angesichts mangelnder Informationen schwierig für mich, Ihnen einen Rat zu geben. Wenn Ihre Tochter positiv reagiert, könnten Sie hinzufügen:  „Es ist in Ordnung für mich, wenn ich dir bei manchen Dingen die Entscheidung überlasse; aber in anderen Situationen entscheide ich, und ich werde dir sagen, wann das der Fall ist.“
Das größte Problem ist in Ihrem Fall, dass Sie ein schlechtes Gewissen haben, weil Sie Ihre Tochter aufgrund Ihrer Depression mental alleine lassen; der Gedanke, sie zweihundertprozentig zu bemuttern, wäre in Ihren Augen ein Heilmittel, sowohl für Sie als auch für die Beziehung. Wenn sie ein autonomes Kind ist, wird Sie Ihr Verständnis von mütterlicher Liebe auf eine harte Probe stellen und Sie werden sich häufig zurückgewiesen fühlen. Und wenn Sie obendrein noch Recht haben, was die „intuitive Verbindung“ zwischen Ihnen beiden betrifft, wird die Situation dadurch noch komplizierten. Sie könnten diesen Punkt offen ansprechen: ”Ich habe oft das Gefühl, dass zwischen uns beiden eine ganz besondere Beziehung besteht … dass wir uns auf einer Wellenlänge befinden. Empfindest du das genauso?“
Die Antwort können Sie an ihrem Gesicht ablesen. Wenn sich Ihre Beobachtung bestätigt, könnte der erste Schritt darin bestehen, dass Sie sagen: „Prima, ich bin froh, dass du es auch so siehst, und es tut mir leid, dass ich so lange dafür gebraucht habe, das zu erkennen. Ich werde darüber nachdenken und wir sprechen wieder darüber, wenn ich Hilfe benötige.“
Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück. Sie haben einen holperigen Weg vor sich, aber zumindest wissen Sie, warum.

Ich hätte die Thematik mit Herr Juul gerne noch etwas vertieft, doch auch so habe ich schon einige Gedankenanstöße bekommen, die mich seitdem beschäftigen. Mir gefällt die Herangehensweise, Emma an meinen Gedanken und Gefühlen teilhaben zu lassen und sie in meine Überlegungen miteinzubeziehen.
Zudem ist mir nochmal bewusster geworden, dass ich an meiner eigenen Akzeptanz arbeiten muss. In mir steckt immer noch dieses Bild, wie eine “gute” Mutter sein sollte, und jede Abweichung von diesem absolut perfekten Bild, gibt mir das Gefühl, zu versagen und eben keine “gute” Mutter zu sein.
Für mich steht fest, dass ich meine Trigger und meine Grenzen genauer erforschen, verstehen und in Worte fassen möchte. Und ich möchte gerne noch genauer hinschauen, in welchen Momenten und Situationen die Autonomie für Emma besonders wichtig ist, um Strategien entwickeln zu können, durch die ich diese Situationen für uns beide angenehmer gestalten kann.

Habt ihr euch in den Beschreibungen wiederfinden können?
Gibt es bei euch vielleicht auch eine so holprige Konstellation?
Wie geht ihr damit um und was hat euch am besten geholfen?

Neben mir hatten auch ein paar andere Blogger die Möglichkeit, Jesper Juul eine ganz persönliche Frage zu stellen. Klickt euch gerne mal durch die spannenden Beiträge von Steffi (Cuchikind), Verena (Mama Berlin), Stefanie (Lieblingsgören), Julia (Frieda Friedlich), Wheelymum und Papalapapi.

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7 Comments

  • Reply
    Liebende bleiben mit Jesper-Juul-Interview › Lieblingsgören: Lesen und lesen lassen
    24. März 2017 at 7:27

    […] spannende Fragen und die Antworten darauf findet Ihr bei meinen lieben Bloggerkolleginnen Ann Kathrin, Julia, Steffi und […]

  • Reply
    Jesper Juul - Liebende bleiben - Rezension - Interview - Wheelymum
    24. März 2017 at 7:59

    […] Munchkins Happy Place  fragt, wie sie das Bedürfnis nach Autionomie mit ihren eigenen Bedürfnissen vereinbaren kann. […]

  • Avatar
    Reply
    Beatrice
    24. März 2017 at 9:10

    Hier, ich. Ich! 😀 Mir geht es so mit meiner mittleren Tochter. Sie wird im Sommer 5. Und ich warte schon auf das Buch über autonome Kinder. Es ist hier auch so, dass sie schon von Anfang an viel geschrieen hat. Und bis heut zu tut sie laut und unmissverständlich ihre Meinung kund. Das ist einerseits ganz toll. So weiß man wo man dran ist. Aber es ist für mich auch sehr anstrengend mit ihr. Mittlerweile habe ich besser raus, wie ich mit ihr umgehen muss, damit unser Alltag möglichst harmonisch abläuft. Für mich ist es jedoch sehr anstrengend. Ich muss immer ganz klar auftreten und ganz klar formulieren, warum etwas wie und wann gemacht wird. Und wenn sie beginnt über andere bestimmen zu wollen, muss ich sie auch drosseln. Ich rede sehr viel. Mehr als mir manchmal lieb ist. Das hilf.
    Und es hilft auch ihr zwei ganz klare Auswahlmöglichkeiten vorzugeben und dann kann sie selbst entscheiden. Das klappt gut. Alles was ich ihr (manchmal hat man nunmal Zeitdruck ) vorgebe, führt zu einem “Kampf”.
    Anstrengend. Und manchmal war/bin ich wirklich ratlos. Aber ein tolles Kind!
    Du findest bestimmt auch noch Wege für euch. Man lernt sich auch als Eltern Kind Gespann noch besser kennen.

  • Reply
    MAMA BERLIN fragt Jesper Juul zum Thema Beziehungsgewalt: Was machen wir mit unseren Kindern? | MAMA BERLIN
    24. März 2017 at 9:22

    […] Wie finde ich eine gesunde Balance zwischen den Ansprüchen meines Kindes und meinem Bedürfnissen nach Ruhe? Die Antwort dazu gibt’s bei MUNCHKINS HAPPY PLACE […]

  • Avatar
    Reply
    Rebecca
    25. März 2017 at 9:11

    Ich hatte auch eine wochenbettdepression und es belastet mich noch immer irgendwie. Alle sprechen immer von dieser ersten schönen Zeit, wenn man sich kennenlernt und ich kann mich an fast gar nichts mehr erinnern außer an panikattacken, weinen und instagram 😢 dabei hatten und haben wir so ein pflegeleichtes Kind. Ich weiß, dass es vielen Mamas so geht, aber ich habe trotzdem ihm gegenüber so ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl habe, ihn nicht genug geliebt zu haben. Ich hätte doch in diesem Gefühl allumfassender Liebe aufgehen und nicht daran zerbrechen sollen. (talk about perfekte Mutter und so). Gott sei Dank gab es hier eine gute Betreuung, bei denen ich das erste mal das Konzept der good enough mother kennen gelernt habe. An den meisten Tagen klappt das auch ganz gut, nicht immer perfekt, sondern gut genug zu sein. Aber ich bin trotzdem noch traurig, dass der Anfang so schwierig für mich war…

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    Andrea
    31. August 2018 at 13:36

    Hallo, danke für deinen Bericht! Das war ein bisschen meine Rettung heute. Einfach zu sehen, dass es anderen genauso geht! Anscheinend gibt es einfach diese Konstellationen, die das Leben miteinander echt herausfordern in einer Weise, wie ich es nie erwartet hätte und die mich oft dermassen an meine Grenzen bringen. Genau wie bei Dir, erkenne ich mich eher als hochsensibel, meine Tochter (auch Emma) als autonom und einem Sohn, der eher in Richtung ADS geht, sehr empfindlich und schnell alles auf sich beziehend. Ganz tolle Kinder, die ich liebe, aber sehr herausfordernd!!
    Wie du auch schreibst, arbeite auch ich daran, nicht perfekt sein zu müssen und meine Vorstellung von einer perfekten Mutter zu überarbeiten. Bin gespannt auf deine weiteren Berichte und wie du mit deiner HPS umgehst. Was hast du schon umsetzen können von den Ratschlägen von Jesper Juul? Liebe Grüße, Andrea

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    Andrea
    9. Oktober 2018 at 9:06

    Ich dachte lange Zeit dass mein Kind ein autonomes Kind ist. Da war ich froh, diese Erklärung zu finden. Allerdings steckte doch eine Binsungsproblematik dahinter und mein sehr sensibles Kind, für das es einfach zu verletzlich war, sich auf mich zu verlassen, ging in die Bestimmerrolle. Oft verdecken solche Kategorisierungen die eigentlichen Ursachen darunter. Vielleicht interessiert dich der Artikel ja:

    https://mit-kindern-reifen.de/autonome-kinder-oder-vielleicht-doch-eine-bindungsproblematik/

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